Samstag, 27. September 2014


DIE SCHAM

Ich glaube jeder Mensch kennt dieses sehr spezielle Gefühl. Scham lässt einem ganz weich werden, am liebsten möchte man sich in Luft auflösen und diese bestimmte Situation vergessen. Doch zu wissen, dass die Scham zu allen gehört könnte uns etwas mehr Lockerheit bringen. Ja ja und tatsächlich ist dieses Gefühl sogar sehr wichtig und wertvoll. 

Ich selber glaube, dass die Menschen jedoch die postitive Seite des Schams nicht erkennen und sie dadurch als negativ wahrnehmen. Fazit: alles was negativ ist am besten verdrängen und niemandem zeigen wollen. Kommt aber eine Situation in der sie sich wieder aufdrängt, wird das Gefühl vielleicht immer schlimmer und ein Teufelskreis entsteht. 

Die Idee ist, zu diesem Gefühl ja sagen zu dürfen.... jawohl es beschämt mich... und dabei tief durchatmen. Was macht es mit dir wenn du zugibst wie es sich anfühlt? Ja genau du fühlst die Scham... darum heisst es auch SCHAM, ansonsten hätte dieses Wort keine Berechtigung. Es gibt kein Leben ohne Scham, darum versuche es einfach mal anzunehmen. 

Ich möchte speziell über die Thematik betreffend meiner Frauenpraxis und meiner Arbeit schreiben. Ich kann erkennen, dass viele Frauen ihre Scham zwar tip top erkennen, sich selber aber durch sie verdrängen lassen. Viele haben Themen, welche sie belasten. Folgendes Beispiel: eine Frau hat stets Schmerzen beim Geschlechstverkehr. Ihr Ziel ist es beim Geschlechtsverkehr Freude zu empfinden, also möchte sie keine Schmerzen mehr. Sie geht nun zu ihrer Gynäkologin und lässt die jährliche Kontrolle machen, inklusive Unterleibsuntersuchung. Weil sie aber durch ihre Eltern vielleicht gelernt hat, dass FRAU nicht über sexuelle Themen spricht, sagt sie der Ärztin nichts von ihren Schmerzen. Ihr Freund wird wohl auch nichts davon wissen. Sie möchte bloss hören ob alles in Ordnung ist oder nicht. Laut Untersuchung ist organisch gesehen bei dieser Frau wirklich alles in bester Ordnung und so gehts sie wieder nach Hause und findet sich vielleicht damit ab, dass sie sich diese Schmerzen entweder einbildet oder aber etwas Psychisches nicht stimmt. Jahrelang quält sie sich mit diesem Thema bis ihr Leidensdruck zu stark wird. Nach x Jahren erzählt sie ihrer Ärztin beschämt und mit einer leise Stimme davon. Sie bekommt einige Tipps und die Gynäkologin drückt ihr einen Flyer von mir in die Hände. Für mehr reicht die Zeit in der Sprechstunde nicht und mehr als Gespräch und medizinische Untersuchungen gibt es in einer Gynäkologischen Praxis für gewöhnlich nicht.

Die Frau geht nach Hause und weiss nicht, ob sie den Flyer überhaupt auspacken sollte. Der Freund darf ihn auch nicht sehen und so verweilt er in den nächsten Wochen in ihrer Tasche. Beim Sex hat sich bisher nicht viel verändert. Der eine und andere Tipp bringen ihr eine kleine Veränderung, doch ihr Körper reagiert immer noch genau gleich. Diese Thematik belastet sie immer mehr, aber ihre Scham ist einfach zu gross um damit zu mir zu kommen. 

Warum schämt sich denn ein Mensch für eine Situation, welche doch aus einem Grund ist wie sie ist? Die Scham hat enormes Potential, alle können an ihr wachsen. Doch dazu darfst du zu ihr Ja sagen und mit ihr zusammen weiterlaufen... warum willst du stehen bleiben? Warum versteckst du dich hinter ihr? Warum hat sie dich so sehr im Griff? Warum lässt du dich von ihr beherrschen und steuern? 

Ich möchte die Frauen in meiner Praxis ermutigen sich mit allem zeigen zu dürfen was da ist. Du bist herzlich willkommen. Meinst du ich habe keine Scham, welche ich wahrnehme? Ich wäre kein Mensch wenn ich dies nicht fühlen dürfte. Ich sage aber ja zu ihr... und das macht es frei und "normal". Und wenn man an einem Thema gearbeitet hat und da keine Scham mehr wahrnimmt kommt ein anderes Thema, wo sie plötzlich wieder da ist. Und wieder darf MENSCH hinschauen und ja sagen. Das Ja-Sagen heisst nicht, dass die Scham weg muss. Das Ja-Sagen ist das Akzeptieren und die Erlaubnis eine Veränderung zuzulassen. 

Die Frau meldet sich nun bei mir und ist bereit den ersten Schritt zu tun. Sie erzählt mir, dass sie sich schäme und kaum darüber sprechen könne. Das ist o.k für mich. Wir gehen jetzt nach ihrem Tempo, so dass sie sich sicher und vertraut fühlt. Sie ganz alleine entscheidet was ihr gut tut. Weil sie nun auch erfahren darf, dass auch ich Scham erlebe in meinem Leben, erfährt sie ein angenehmes Gefühl von teilen und sich verstanden fühlen. Und hier beginnt die Veränderung....

Ich freue mich wenn auch du dich diesem Schritt öffnen kannst. Sage Ja zu dir und dem Scham...

Nadine